Alle Achtung und alle Vorsicht, wenn es heißt:

„Sie haben eine Reise gewonnen“

 

Der Begriff „Kaffeefahrten“ ist für viele ein Begriff. Ich hatte auch schon viel über diese berüchtigten Verkaufsfahrten gehört. Was mir auf einer Kaffeefahrt am 13. Oktober des letzten Jahres widerfuhr war ungeheuerlich, menschenverachtend und verstärkte meine bisherigen Ansichten. Doch der Reihe nach:

Meiner Mutter flatterte eines Tages im letzten Spätsommer ein Brief mit der Mitteilung ins Haus, dass sie Gewinnerin eines Reiseausflugs geworden wäre. Sie erinnerte sich bei einer einfachen Rätsel-Postwurfsendung mitgemacht zu haben. Zu diesem „wunderschönen Ausflug“ wären bis zu 4 weitere Personen kostenlos mit eingeladen. Meiner Mutter und mir war bereits klar, dass es sich um eine so genannte „Kaffeefahrt“ handeln musste. Um selbst mal bei einer Kaffeefahrt dabei gewesen zu sein, entschloss ich mich mit meinen Eltern diesen „wunderschönen Ausflug“ mitzumachen.

Voller Begeisterung vielleicht doch einen „großen Gewinn“ gemacht zu haben, standen wir pünktlich und frohgemut um 6.40 Uhr vor dem Abfahrtspunkt am Kleefelder Bahnhof. Mit weiteren heiteren „Gewinnern“ bestiegen wir den Bus, der noch einige weitere Hannoveraner einsammelte. Der Busfahrer, der selbst keine Ahnung hatte wohin er fahren sollte, bekam über Handy die Mitteilung, dass die Reise in die schöne Lüneburger Heide gehen würde. Noch stimmte Traum und Realität überein. Als jedoch unser Bus am Landhaus Tewel in der Nähe von Neuenkirchen angekommen war, begann das „große Grauen“.

Als wir den Festsaal betraten waren drei große lange Tischreihen eingedeckt. Man konnte sich zu einem stolzen Selbstkostenpreis ein einfaches Frühstück bestellen. Zu meinem Erstaunen waren noch zwei weitere Busse eingetroffen, die vor allem weitere Rentner aus Bremen und Hamburg herangekarrt hatten. Insgesamt waren ca. 65 Personen anwesend. Zum Glück setzten wir uns ans Ende der Tischreihen, so dass wir nicht direkt vor der Bühne saßen. Wie sich herausstellen sollte, war es ein großer Vorteil. Als meine Fototasche einem Assistenten aufgefallen war, kam er zu mir und sagt, dass ich hier nicht fotografieren dürfte. Worauf ich entgegnete: „Warum denn, wir befinden uns doch hier in einem Restaurant?“ „Nein“, kam die barsche Antwort, „hier in der Öffentlichkeit dürften Sie nicht fotografieren.“ (!!!)

Nachdem sich alle gesättigt hatten, kam der „Chef“ und begann die Veranstaltung. Er wies darauf hin, dass keiner verpflichtet sei hieran teilzunehmen. Doch wer sich dagegen entscheiden würde, dürfte nicht wieder rein kommen und bekäme auch das versprochene kostenlose Mittagesessen nicht gereicht. Während der ganzen „Show“ redete der „Chef“ mit lauter, schneller, autoritärer, bestimmender und anmaßender Stimme. Auf die Frage „ob er etwas leiser sprechen könnte“, wird er nur noch extra lauter. Er behauptete von sich, dass bei ihm Ehrlichkeit und Fairness an oberster Stelle der Prioritätenliste stände. Durch einseitige politische Stimmungsmache, lockeren Sprüchen und Witzen, Schmeichelungen und Schwänken aus der Jugend versuchte er die potenziellen Kunden auf seine Seite zu ziehen. Soweit sie mitgingen war es kein Problem. Doch sobald es Widerstand gab, wurde er noch lauter, fordernder, bestimmender und beleidigender. Je länger die „Show“ dauerte, umso ruhiger und höriger wurden die Reisegewinner. Bei gestellten Fragen benahm sich der Verkaufsleiter wie ein alter strenger Oberlehrer. Jede Frage oder Antwort von den Gästen wurde von ihm bewertet, denunziert oder stellenweise ignoriert. So äußerte er sich z.B. wie folgt: „Das ist absolut korrekt“, „Der ist ein ganz dummer Mensch“, „Du bist schlimmer als meine Alte!“ oder „Arbeitslose seien doch Schmarotzer“. Ob er damit jemanden verletzte, demütigte oder diskriminierte war ihm egal, denn genau durch die entstandenen Ausgrenzungen und Verunsicherung konnte er sich seinem Verkaufserfolg immer sicherer werden. Er spielte durch gezielte Äußerungen die Gäste gegenseitig aus und polarisierte sie untereinander. War es ihm zu laut, so wurde er sehr energisch und verlangte die alleinige völlige Aufmerksamkeit. Klingelte ein Handy, das eigentlich ohne Kompromiss ausgeschaltet sein sollte, so kamen einer der beiden Assistenten und nötigte die Person, es sofort und ohne Nachsicht es auszuschalten. Ich hatte mein Handy die ganze Zeit lautlos und demonstrativ auf dem Tisch liegen. „Hier herrscht Disziplin und Ordnung!“ Ständig stellte er seine Meinung in den Vordergrund, betonte seine Machtposition und prahlte seine Produkte in den Superlativen an: Sie seinen die billigsten, hochwertigsten und effektivsten.

Im Großteil der Veranstaltung ging es um ein Hormontherapiepräparat aus Amerika, dass es erst ab diesem Jahr offiziell in Deutschland geben würde. Es hat den Namen „Phytosterol-Therapie“. Er könnte es als erster in Deutschland und natürlich am billigsten anbieten. Er belegte die Wirkung seines Präparates mit Sequenzen aus Fernsehsendungen wie Spiegel TV, BBC Exklusive und Fliege, die ich allerdings für zweifelhaft erachte. Denn die Sequenzen schienen aus einem anderen Themenhintergrund produziert und dementsprechend herausgerissen worden zu sein. Durch seine Ausführungen und angeblichen Erklärungen schürte er Angst unter den Gästen, vor allen vor den bekannten Alterskrankheiten, wie Diabetes, Herzinfarkt, Parkinson, Demenz, Sehstörungen oder Potenzstörungen. Die Hormontherapie solle genau gegen all diese Alterskrankheiten wirken, indem sie den Abbauprozess des Körpers verhindert. Darüber hinaus bemerkte er, dass ihm die Zeit fehle alle Wirkungen aufzuführen. Es sei nur eine „Zeitbombe“ bis uns eine solche Krankheit ereilen würde. Alte kranke Menschen mit Inkontinenz tituliert er mit „Bettnässer“. Von Menschenwürde hat er offenbar noch nichts gehört.

Während seiner Erläuterungen stellte er zudem ständig die sich wiederholende und rhetorische Frage: „Haben Sie das verstanden?“, so dass man sich genötigt fühlte sich ein „Ja“ über die Lippen huschen zu lassen. Diese Frage hörte mindestens an die 10mal. Offensichtlich hatte er die Sätze auswendig gelernt.

Als er überraschender Weise auf das Annastift in Hannover zu sprechen kam, konnte ich nicht länger an mich halten. Er behauptete, dass das Annastift eine homöopathische Klinik und Altenpflegeeinrichtung sei. Ich entgegnete ihm, dass es sich beim Annastift jedoch um ein orthopädisches Krankenhaus und eine Behinderteneinrichtung handele. Ich bekam darauf lediglich zu hören: „Wir sind hier nicht päpstlicher als der Papst. Wir legen hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage.“ „Ach so!“, dachte ich im Stillen nur bei mir.

Bei der Preisnennung für die Hormontherapie von 2.275 € stöhnten einige, worauf er hart entgegnet: „Stöhnen ist in meinen Augen die falsche Reaktion.“ Es ginge ja schließlich um eine Investition in die Zukunft. Da kann man ruhig mal Geld investieren. Schließlich haben wir alle ja auch ein Auto, das in Stand gehalten werden möchte. Die Aussage „Ich bin kein barmherziger Samariter“ trifft voll ins Schwarze, wenn man es nicht nur auf den Preis, sondern auf die ganze Person des „Chefs“ bezieht.

Inzwischen wirken eigentlich fasst alle Gäste eingeschüchtert und unsicher. Die Gäste sollten und könnten ihm in diesem Angebot ruhig blind vertrauen. Er komme uns sogar noch etwas weiter entgegen und macht uns heute ein besonderes Angebot. Er durchkreuzte symbolisch den Preis, änderte ihn und klappte die Karte zu, ohne dass es einer sehen konnte. Dann beginnt der Verkauf. Der ist jedoch ungewöhnlicher als man es sich vorstellen kann: Er wird von 1 bis 3 zählen und allein die ersten 15 sich meldenden Personen werden das „Sonderangebot“ erhalten. Nach mehrfachen Wiederholungen und Bekundungen, dass wir es verstanden haben, kam es dann zum hektischen „Sonderverkauf“. Bei 3 meldeten sich mehr als fünfzehn Personen. Schließlich kauften und erhielten sogar 23 Personen das Wunderpräparat ohne den festen Preis zu wissen. Sie zahlen schlussendlich den unglaublichen „Sonderpreis“ von 1.198 €. Bei einer zweiten Verkaufsrunde wollten noch 4 weitere es kaufen. Damit haben knapp über 40% der Gäste sich für einen Kauf entschieden. Freiwillig oder genötigt, bleibt offen. So bewirkte er für sich dennoch einen Umsatz von sage und schreibe 32.346 € innerhalb von 3 Stunden! Die Quote für eine Stunde kann jeder leicht ausrechnen.

Erstaunlicherweise sollen die „glücklichen Käufer“ erst 4 Wochen nach Ende der Therapie zur Kontrolluntersuchung beim Hausarzt gehen. Denn erst dann sei eine lebensverbessernde Wirkung nachweisbar. Ob nicht genau das Gegenteil der Fall ist und man nach 4 Wochen kein Nachweis mehr feststellen kann?

Hin oder her: Die ganze Präsentation mit all seinen Methoden, Erklärungen und Vorteilbekundungen wirkten nicht sehr schlüssig und ehrlich. Nach dem Ende der Hauptverkaufsshow rechnete der Chef seinen Gewinn per Taschenrechner aus und verschwand durch die Hintertür ohne sich von „seinen Gästen“ zu verabschieden.

Nach dem kostenlosen Mittagessen werden seine Assistenten noch kleinere Artikel an den Mann und die Frau bringen. Als ich nach dem Ende der Verkaufsshow – ich war zwischenzeitlich länger raus gegangen – die Angestellten des Landhaus Tewel ansprach, ob sie wissen, was das hier für eine Veranstaltung sei und was sie davon halten, bekam ich eine kurze und flapsige Antwort: „Ja.“ Sie scheinen keine ethischen Bedenken oder Einwände zu haben oder überhaupt zu spüren. Hauptsache die Kasse stimmt.

Am Ende des Tages war ich der Gewinner nicht von irgendwelchen Sachpreisen, sondern von neuen und unglaublichen Erfahrungen. Jeder der solch eine harte und brutale Kaffeefahrt ohne jeden ausgegebenen Euro und Cent verlässt, gehört ein viel größerer Gewinn: Ein Orden der Standhaftigkeit, der Selbstdisziplin, des Mutes und der Tapferkeit.

Für mich endete der Tag dank einer Kommilitonin noch sehr versöhnlich und schön. Anstatt mit dem Bus wieder zurückfahren zu müssen, fuhren wir mit ihr zum Bullensee bei Rotenburg/Wümme, wo wir noch einen herrlichen Nachmittag verbrachten. Am Abend ging es dann schließend mit dem Zug zurück gen hannoversche Heimat.

Ich kann nur jeder und jedem davor abraten auf eine Kaffeefahrt mitzufahren. Der dort aufgebaute psychische Druck ist enorm hoch und schlägt stark aufs Gemüt. Geben sie lieber selbst etwas Geld aus, um einen wunderschönen Ausflug zu machen. Sie werden mehr davon haben. Die bekannten Heizdecken oder Damenfahrräder kriegen sie übrigens in jedem Geschäft erheblich billiger. Und wen Ihnen doch eine Einladung mit einem verdächtigen Gewinnversprechen ins Haus flattert, zerreißen sie diese sofort und werfen sie sie ins Altpapier! Speziell von: St. Matim Ltd. „Rätselfreunde“ Postfach 1112 – 29623 Munster (Heide)

David Scherger (Januar 2004)

PS.: Als mein Vater später in der örtlichen Apotheke nach der „Phytosterol-Therapie“ fragte, war es den ApothekerInnen völlig unbekannt.